COVID-19 – Triagerichtlinien

Die Eskalation der Situation in Italien und die darauf folgende Überlastung der Intensivstationen aufgrund der Covid-19 Pandemie, hat dazu geführt, dass in vielen Länder Handlungsempfehlungen diskutiert und erarbeiteten wurden, wie in der Schweiz die „Richtlinien zur Triage von Intensivmedizinischen Behandlungen bei Ressourcenknappheit“.

In vielen Länder wurden sehr problematische und teilweise diskriminierende Inhalte öffentlich diskutiert, was bei marginalisierten Gruppen, welche regelmässig Diskriminierung erleben, grosse Angst und Unsicherheit auslöste.

Aus dieser Not heraus haben sich weltweit aktivistische Gruppen zusammen getan um für ihre Rechte einzustehen.

Die letzten Wochen war ich mit Aktivisten aus Europa und den USA in Kontakt. Yes2Bodies hat die Europäische Aktion we4fatrights.eu initiiert und koordiniert. Die Erstunterzeichner*innen sind ein Zusammenschluss von Organisationen und Aktivist*innen, die sich in verschiedenen europäischen Ländern gegen Diskriminierungen in der medizinischen Versorgung einsetzen, mit dem Schwerpunkt auf Gewichtsdiskriminierung.

Wir fordern den besonderen Schutz vor Voreingenommenheiten (medical bias) in der Behandlung von Covid-19 durch Handlungsempfehlungen Ihrer Institution an die Ärzteschaft und Medienvertreter*innen in der aktuellen Covid-19-Pandemie. Schlechterbehandlungen durch gesellschaftliche und medizinische Voreingenommenheiten gegen hochgewichtige Patient*innen müssen proaktiv verhindert werden. Dabei geht es uns sowohl um die allgemeine intensivmedizinische Betreuung wie auch um den Fall der Triage.

Auf we4fatrights.eu findet sich der vollständige offene Brief, sowie die Möglichkeit, diesen symbolisch zu unterschreiben.

In einem Schreiben habe ich mich an die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) gewandt, welche die „Richtlinien zur Triage von Intensivmedizinischen Behandlungen bei Ressourcenknappheit“ erstellt und veröffentlicht hat und dabei auf unseren offenen Brief aufmerksam gemacht.

Nachfolgend einen Auszug aus meinem Schreiben:

«In den Schweizer Handlungsempfehlungen wird darauf hingewiesen, dass auch in Notsituationen medizinethische Prinzipien wie: Gutes tun, nicht schaden (primum non nocere), Autonomie und Gerechtigkeit weiterhin gelten müssen.

Im Prinzip Gerechtigkeit wird auf die Gruppen hingewiesen, die gesellschaftlich benachteiligt und die über die Schweizer Gesetze vor Diskriminierung geschützt werden.
Hochgewichtige Menschen fallen nicht darunter, da Körpergewicht in der Schweiz bisher keine gesetzlich erfasste Diskriminierungskategorie ist.

Gesundheit und Pflege sind jedoch der Lebensbereich, für den hochgewichtige Menschen am häufigsten Diskriminierungserfahrungen schildern. Ich appelliere deshalb an Sie, dass Körpergewicht im Kontext des medizinethischen Prinzips Gerechtigkeit in den Handlungsempfehlungen der Schweizer „Richtlinien zur Triage von intensivmedizinischen Behandlungen bei Ressourcenknappheit“ explizit genannt wird.»

Nach einer Antwort der SAMW habe ich am 15.04. eine weitere Mail verfasst. In diesem Mail beziehe ich mich auf eine Studie aus Deutschland, da es aus der Schweiz leider keinerlei Daten zu Diskriminierung anhand des Körpergewichtes gibt:

«Keine Frage, es sollte oberstes Ziel sein, dass die Anwendung der Richtlinien für eine Triage im engeren Sinne nicht erforderlich wird. Sollte dieser Fall allerdings eintreten, ist geboten, dass die Richtlinien die bestmögliche Hilfestellung für die medizinischen Fachkräfte sind. Denn sie kommen dann in einer Krisensituation zum Einsatz, in der sie das Bewusstsein dafür schärfen sollen, welche Punkte nicht unberücksichtigt bleiben dürfen. Sie selbst benennen daher in Ihren Richtlinien nicht nur vier medizin-ethischen Prinzipien, Sie führen Sie in den Vorzugsregeln auch weiter aus. So verweisen Sie bei Gerechtigkeit explizit auf Diskriminierung und benennen verschiedene Diskriminierungskategorien, um so den Blick auf die Schwächsten in unserer Gesellschaft zu richten. Eine wichtige Hilfestellung, die den Fachkräften diese Gruppen ins Bewusstsein ruft. In der aktuellen Form verfehlen die Richtlinien hier allerdings das Ziel, die bestmögliche Hilfestellung zu sein. Die Schwächsten unserer Gesellschaft werden durch die Liste unter dem Punkt Gerechtigkeit nicht vollumfänglich abgebildet.

Gerade die schutzlosen Gruppen bleiben unbenannt, also jene, die von Diskriminierung betroffen sind, für die es aber noch keinen Diskriminierungsschutz gibt. Dazu zählen von Gewichtsdiskriminierung Betroffene. Ursache hierfür sind zwei Faktoren:

  1. Sie verwenden eine abgeschlossene Liste. Es lässt sich kein Hinweis darauf finden, dass es sich hier um eine exemplarische Nennung handelt.
  2. Sie berücksichtigen nicht jene Diskriminierungskategorien, die den Sprung ins Gesetz noch nicht geschafft haben, obwohl dies seitens der Forschung ausdrücklich empfohlen wird.

Letzteres trifft auf die Diskriminierung anhand von Gewicht zu. In Handlungsempfehlung 4 der Studie Diskriminierungserfahrungen in Deutschland heisst es dazu:

Die vielen Diskriminierungserfahrungen, die Personen anhand äußerlicher Merkmale, insbesondere anhand des Gewichts, erlebt haben, belegen den dringenden Handlungsbedarf, für diese Personen eine Möglichkeit zu schaffen, sich gegen ihre Diskriminierungserfahrungen zur Wehr zu setzen. Um diesen Personen auch Schutz gegen Diskriminierung zu bieten, sollten die im AGG geschützten Merkmale um äußerliche Merkmale ergänzt werden.

Geschlossene Listen wie die unter dem Punkt Gerechtigkeit werden an gleicher Stelle kritisiert. Dort heisst es:

Da sich auch das gesellschaftliche Verständnis davon ändert, anhand welcher Merkmale Diskriminierung erlebt werden kann, ist es ausserdem sinnvoll, die im AGG genannten Merkmale nicht als geschlossene, sondern offene Liste zu konzipieren.

Die Gesetzgebung fällt hier weit hinter dem Bedarf zurück. Geben Sie den medizinischen Fachkräften die bestmögliche Hilfestellung an die Hand, eine, die den tatsächlichen Bedarf widerspiegelt. Weisen Sie darauf hin, dass es Diskriminierungsformen gibt, für die es bisher ein geringes Bewusstsein gibt, da ein rechtlicher Diskriminierungsschutz fehlt. Benennen Sie Gewichtsdiskriminierung als eine von ihnen.»

Die Kommunikationsverantwortliche der Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) Franziska Egli hat dazu Stellung genommen, was ich hier mit ihrem Einverständnis veröffentliche:

«Wie bei unserem letzten Mailkontakt gilt zum Glück weiterhin, das die Richtlinien zurzeit nicht in Anwendung sind. Vor diesem Hintergrund und nach reiflicher Überlegung haben wir entschieden, im Moment kein weiteres Update der Richtlinien vorzunehmen. Vielmehr werden wir im Rahmen einer sorgfältigen Aufarbeitung der Covid-19-Pandemie entscheiden, inwiefern wir die Richtlinien noch einmal anpassen. Bei dieser Gelegenheit werden wir solch sorgfältige Rückmeldungen wie die Ihre gerne prüfen.»

Ich bin sehr froh, dass die Schweizer Intensivmedizin nicht an ihre Kapazitätsgrenze geraten ist.

Die aktuelle Krise zeigt stark auf, dass die Schweiz es bisher versäumt hat, das Thema Gewichtsdiskriminierung anzugehen, weshalb es weder Schweizer Studien, Aktionspläne oder vergleichbare Massnahmen zur Prävention und für die Sensibilisierung für Gewichtsdiskriminierung im Schweizer Gesundheitswesen und in der Gesellschaft gibt.

Mein Aufruf an die SAMW: Positionieren sie sich klar gegen Gewichtsdiskriminierung und erarbeiten Sie Ihre Position mit Hilfe von zivilgesellschaftlichen Akteuren und unabhängigen Experten!
Die Würde des Menschen, welche als erstes Grundrecht der Bundesverfassung genannt wird, und ein diskriminierungsfreier Zugang zum Gesundheitswesen sind Voraussetzungen für die gesunde Entwicklung jeder einzelnen Person und unserer Gesellschaft.

Die Arbeit von We4FatRights und Yes2Bodies in der Schweiz wurde im International Journal of Disaster Risk Reduction beschrieben.

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