Persönliche Gedanken zur COVID-19 Pandemie

In Zeiten der COVID-19-Pandemie wird die Dringlichkeit des Themas Gewichtsstigmatisierung und -diskriminierung super deutlich. Als Aktivistin, die sich für die Rechte von dicken Menschen einsetzt, fühle ich mich verpflichtet, mich dazu zu äussern bevor die Situation sich noch weiter zuspitzt. Am liebsten würde ich mich zu Hause abschotten und angenehme Dinge tun wie Serien schauen, nähen, oder sogar lieber Fenster putzen.

Angst, Sorge um die Familie und eine Überforderung mit der raschen Veränderungen haben auch bei mir die letzten Tage und Wochen geprägt.
Seit bald zwei Wochen bin ich fast ausnahmslos zu Hause und versuche zwischen Alltäglichem, wie mit dem Kind „Schule“ zu machen und zu kochen, mich sachlich zu informieren und das Wissen in Perspektive zu bringen.

Ich bin gelernte Pflegefachfrau HF, eine von vielen, welche nicht mehr am Patientenbett arbeitet. Ich habe grossen Respekt vor allen Pflegefachfrauen/ und -männern und allen anderen, welche während dieser Krise und auch sonst diese wichtige Arbeit tun, unter nicht guten Bedingungen. Die Belastung und Anspannung während dieser Pandemie kann ich nur erahnen. Obwohl ich viel erlebt habe, eine Pandemie war nicht dabei.

Es ist jetzt etwas mehr als 10 Tage her, seit Nachrichten von überfüllten Spitälern in Italien in den Medien sind und damit meine Angst ein neues Level erreicht hat. Ein Gefühl von Ohnmacht breitet sich aus und Aussagen wie: „Es betrifft mich nicht, sondern nur Alte und bereits Kranke“, machen mich so richtig hässig.
Weshalb fühle ich mich Ohnmächtig? Weil mir als dicke Frau leider ganz stark bewusst ist, dass dicke Menschen wie ich häufig als krank, „weniger als“ und „selber schuld“ kategorisiert werden. Und das ganz pauschal, unabhängig ob eine dicke Person eine chronische Erkrankung hat oder nicht und dies bereits mit dem ersten Blick.

Auch wenn ich überzeugt bin, dass niemand im medizinischen Bereich einem Patienten gezielt Schaden zufügen will, ist Gewichtsstigmatisierung im medizinischen Bereich leider eine Tatsache und die Vorurteile stark verbreitet.

Ich habe als Patientin und als dicke Pflegefachfrau diverse Situationen erlebt, in welcher Gewichtsstigmatisierung und -diskriminierung vorgekommen sind. Studien belegen, dass Ärzt_innen mit dicken Patienten weniger Zeit verbringen, diese weniger über die Gesundheit informieren und auch weniger Diagnostische Tests durchführen​1​.
An einer Konferenz der Gesundheitsförderung im September, habe ich mich mit einer Ernährungsberaterin unterhalten, welche teilweise auf Abteilungen mit Bariatrischer Chirurgie arbeitet. Sie erzählte mir, dass die Dickenfeindlichkeit sehr ausgeprägt ist.

Die Angst, in einem Notfall nicht für mich selber einstehen zu können, ist nicht neu. Eine befreundete Ärztin hat mir von etwa einem Jahr versprochen, dass sie, falls ich je auf einer Intensivstation eingeliefert werde, für meine wertschätzende Behandlung einstehen wird. Ich habe ihr vor einigen Tagen eine SMS geschrieben und sie an dieses Versprechen erinnert.

In den letzten Tagen habe ich mir diverse Fragen gestellt.

Sind die Rettungsdienste auf sehr dicke Patienten vorbereitet welche einen speziellen Transport und Bett benötigen? Haben die Spitäler grosse Blutdruckmanschetten bereit? Wer weiss, welches Spital dafür ausgerüstet ist? Sobald die Situation eskaliert, müssen diese Informationen vorhanden sein.
Im Anhang habe ich die Antwort vom Interverband für Rettungswesen IVR-IAS auf meine Anfrage sowie die Ausstattung des Universitätsspital Zürich angefügt.

In den USA und UK wird bereits massiv mit dickenfeindlicher Rhetorik um sich geworfen – ganz nach dem Motto „wir können ja gleich die Pandemie nutzen um dicke Menschen noch mehr zu stigmatisieren“ – à la „Dick = Risiko“ und sowieso eine Belastung für das Gesundheitssystem (kann man dies überhaupt als Gesundheitssystem bezeichnen?).

Die „Schweizer Adipositas Stiftung“ betitelt alle Dicken als Risiko Gruppe und ruft auf Facebook aus: „Ein Appell, der unbedingt Beachtung verdient, denn Adipositas-Betroffene gehören von ihrem Krankheitsbild her gleichsam automatisch zur Gruppe mit erhöhtem Risiko, unabhängig von ihrem Alter. Also haltet euch dran, wenn immer möglich. Danke!“

Das Bundesamt für Gesundheit sagt Risiko Personen sind: Ab 65 Jahre, mit Bluthochdruck, Diabetes, Bluthochdruck, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Chronische Atemwegserkrankungen, Erkrankungen und Therapien, die das Immunsystem schwächen, Krebs.

Würden alle Personen mit BMI 30 als Risiko Gruppe gelten würde das bedeuten, dass alle dicken Personen (unabhängig von Risiko Gruppe) aus dem Medizinischen Bereich oder Dienstleistungsbereich, bezahlt zu Hause bleiben dürfen. Denn als der Bundesrat die „Ausserordentliche Lage“ ausrief, verkündete er: „Besonders gefährdete Personen erledigen ihre Arbeit zu Hause. Ist dies nicht möglich, werden sie vom Arbeitgeber beurlaubt. Ihren Lohn erhalten sie weiterhin.“

Viel dringender und entscheidender sind dann auch die ethischen Fragen.

Was für einen Einfluss hat mein Gewicht auf die medizinische Behandlung während der Pandemie? Gilt mein dicker Körper (ohne eine einzige diagnostizierte Risiko-Krankheit) als krank? Würde mein Körper als zu hoher Aufwand / Belastung angesehen werden um entsprechend behandelt zu werden? Wie stark verschlimmert eine Pandemie die Vorurteile des medizinischen Personals gegenüber dicken Menschen? Bin ich mit Eintritt ins Spital alleine und ausgeliefert?

Ich beziehe mich hier noch nicht einmal hauptsächlich auf die Situation auf der Intensivstation, sondern während der gesamten Behandlungskette.

Der Bund hat am Freitag aufgerufen, dass sich alle mit einer Ausbildung im medizinischen Bereich, die nicht mehr in diesem Beruf arbeiten und nicht der Risiko Gruppe angehören, beim Kanton melden müssen.
Als Dipl. Pflegefachfrau HF, welche, wie sehr viele in der Schweiz, nicht mehr am Patientenbett arbeitet, stellt sich mir die Frage: Gelte ich als gesund und muss mich melden? Falls ich als gesund gelte, werde ich dann im Fall einer Ansteckung bei dieser Arbeit auch im medizinischen Notfall wertschätzend behandelt? (Daneben arbeitet mein Mann 100% und ich habe ein Kind zu Hause, dass ist jedoch ein anderes Thema und in meinem Kanton habe ich noch keinen Aufruf gesehen).

Gewichtsstigmatisierung und Gewichtsdiskriminierung sind für mich gerade sehr deutlich sichtbar und ein grosser Stress. Ich erlebe in der dicken Community in der Schweiz und International eine grosse Angst. Wer die Studien kennt und Berichte aus Katastrophen, wie zum Beispiel Hurrikan Katrina, weiss, dass diese Angst nicht unbegründet ist.

Die letzten drei Tage wurde viel über die am Freitag veröffentlichen „Richtlinien für die Triage bei Ressourcenknappheit auf Intensivstationen“ diskutiert. Die ethischen Diskussionen drehten sich hauptsächlich rund um die Frage von älteren Menschen versus jüngere Menschen. Während in den USA die Disability Aktivisten laut mitdiskutieren und Forderungen stellen, höre ich hier in der Schweiz keine offene Diskussion.

Und auch wenn ich im Moment hauptsächlich die Pflegefach_frauen und die Ärzt_innen anfeuern möchte und meine Dankbarkeit zeigen will, empfinde ich es als zwingend nötig die Ängste und Bedenken von marginalisierten Gruppen anzusprechen:
Was bedeutet diese Pandemie und die Ressourcenknappheit für Menschen mit Behinderungen?
Was bedeutet dies für marginalisierte Gruppen mit niedrigem Sozial Ökonomischen Status, welche öfters Erkrankungen haben wie Bluthochdruck? Was beutet dies für die Generation älter als 65? Was bedeuten sie für dicke Menschen wie mich?

Auch wenn wir vielleicht keine Zeit haben werden, diese Fragen zu diskutieren, bitte liebes Behandlungsteam, denkt bei der Behandlung an die Ängste von marginalisierten Gruppen!
Und bei der nächsten Demonstration für mehr Lohn und bessere Arbeitsbedingungen werde ich an vorderster Front mitgehen – versprochen!

Nachtrag 24.03.2020

Europäisches Behindertenforum fordert inklusiven Ansatz für Menschen mit Behinderungen
Diesen Forderungen schliesst sich AGILE.CH an.
COVID-19: inklusiver Ansatz für Menschen mit Behinderungen findest du hier: https://www.agile.ch/

Anhang

Quellenangaben

  1. 1.
    Phelan S, Burgess D, Yeazel M, Hellerstedt W, Griffin J, van R. Impact of weight bias and stigma on quality of care and outcomes for patients with obesity. Obes Rev. 2015;16(4):319-326. doi:10.1111/obr.12266

Anfrage beim Interverband für Rettungswesen (IVR-IAS)

Ich habe beim Interverband für Rettungswesen IVR-IAS per Mail nachgefragt:

Sind die Rettungsdienste auf sehr dicke Patienten vorbereitet welche einen speziellen Transport und Bett benötigen? Haben die Spitäler grosse Blutdruckmanschetten bereit? Wer weiss, welches Spital dafür ausgerüstet ist? Sobald die Situation eskaliert, müssen diese Informationen vorhanden sein.

Vielen Dank an den Interverband für Rettungswesen IVR-IAS für die Rückmeldung:

Die Rettungsdienste sind in der Regel auf „adipöse“ Patienten vorbereitet. Die Baren sind für Gewichte bis +-250 Kg zugelassen, sollte dies mal nicht reichen gibt es die Möglichkeiten Spezialisten aufzubieten.

Auch sind Messinstrumente wie Blutdruck für diese Patientengruppe vorgehalten.

Sie müssen sich absolut keine Sorgen machen, der Rettungsdienst ist vorbereitet und lässt niemand im „Regen“ stehen.

Falls der Rettungsdienst benötigt wird und Sie sich via 144 melden, wäre ein Hinweis über das Gewicht sinnvoll, so kann ggf. bereits vorgängig Massnahmen getroffen werden um wichtige Zeit einzusparen.

Für die Spitäler kann ich nicht sprechen, dort müssen sie sich vor Ort informieren.

Ausrüstung Universitätsspital Zürich (USZ)

Quelle: A heavy task – Betreuung von stark adipösen Patienten auf
der Notfallstation