Aktion gegen Gewichtsdiskriminierung

Januar 2020

Ich warte in der Bahnhofshalle Neuenburg auf Zoé, als ich die Werbung auf dem grossen Screen hinter mir entdecke. Über die Fläche von mehreren Metern zeigt sich eine riesengrosse rote Weihnachtskugel. Diese platzt ganz theatralisch und plötzlich aus der Form und endet in einer unpersönlichen, dicken und wabbelnden Masse. Mit dem Aufruf „Weg mit dem Weihnachtsschmuck!“ oder wie hier in Neuenburg mit „Au placard la déco de noël“ („In den Schrank mit dem Weihnachtsschmuck“) wirbt die Activ Fitness AG für den Kauf eines Jahresabonnements. Nach einigen Durchgängen der Werbung kommt Zoé, und wir setzen uns in ein nettes Café. Sie berichtet mir von der Reaktion ihrer Freunde auf die Kampagne und was die Omnipräsenz der Werbung in ihr auslöst.
Auf einen Aufruf für Reaktionen und Statements zur Kampagne haben wir auf Social Media viele Antworten erhalten. Zoé übersetzt für mich ein Statement aus dem Französischen:

Ich sehe dieses Plakat ständig und überall. Am Bahnhof, beim Spaziergang durch die Stadt, auf Spotify, auf YouTube, es drängt sich mir auf, egal was ich tue. Ich wünschte, ich könnte es vermeiden, es lässt meine Haut kribbeln, als würden tausende kleine Insekten darauf herumkrabbeln. Am liebsten würde ich mir die Haut abreissen, damit ich nicht mehr in meinem Körper bin. So fühle ich mich wenn ich es sehe.
Ihr Poster ermutigt dicke Körper, sich in den Schrank zu stellen, nicht mehr in der Welt aufzutauchen, nicht mehr zu existieren. Glauben Sie ernsthaft, dass das dicke Menschen dazu ermutigen kann, sich zu bewegen? Sollten Sie nicht vorurteilsfrei alle Menschen willkommen heissen die schwitzen und ihren Körper stärken wollen?
Dicke Menschen, die trainieren oder auch nicht, zeigen Ihnen aufrichtig den Mittelf*nger. Wir lassen uns nicht in den Schrank sperren!

Dieses Statement berührt mich sehr und es macht mich traurig und wütend. Es geht hier um Menschen. Werbung hat echte Auswirkungen auf echte Menschen.





In der Werbung von Activ Fitness wird ein „kopfloser Dicker“​1​ symbolisch als Weihnachtskugel dargestellt und als Objekt dargestellt. Dicke Menschen werden dadurch gezielt entmenschlicht und zum Zweck des Verkaufs Spott ausgesetzt. Diese Art der Darstellung von dicken Menschen als ein symbolisches Objekt ist nicht neu und wurde bereits mehrfach genutzt.

Dem wollen wir uns entgegenstellen! In Zusammenarbeit mit der Gesellschaft gegen Gewichtsdiskriminierung und mit Zoé, ist daher die Aktion „Weg mit der Gewichtsdiskriminierung!“ entstanden.

Auf unsere Kritik (siehe unten) äussert sich der Urheber des Sujets, Charles Zürcher von Zürchermarketing überrascht: «Wir zeigen bewusst keine übergewichtigen, realen Personen». 

Gerade diese Dehumansierung von dicken Menschen wie hier durch den „Headless Fatty“ und die Darstellung als Objekt (Weihnachtskugel) ist so problematisch. Diese kann Misshandlungen fördern, erleichtern und/oder rechtfertigen.​2 Dicke Menschen berichten über Vorkommnissen von verbaler und körperlicher Gewalt in der Öffentlichkeit. Die Aufforderung „Weg mit dem Weihnachtsschmuck“ kann als „Weg mit den Dicken“ verstanden werden. Dies kann als Aufruf zu physischer und psychischer Gewalt gegen dicke Menschen interpretiert werden. Die französische Kampagne „Au placard la déco de noël“ heisst sinngemäss „In den Schrank mit dem Weihnachtsschmuck“. Sie vermittelt die gleiche Botschaft und fordert die Dicken zusätzlich auf, sich im Schrank zu verstecken.

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Zoé und ich gehen gemeinsam zur Bahnhofsunterführung. Dort sind zwei Plakate strategisch so positioniert, dass man diese weder übersehen noch ihnen ausweichen kann. Die Reaktionen der uns entgegenkommenden Pendler sind deutlich von Ekel geprägt. Mit kleinen Weihnachtskugeln, auf welchen «Kiss me», oder «Love» steht, machen wir lustige Fotos. Denn wir wollen uns nicht von diesem Plakat kleinkriegen lassen. Aber nicht alle Menschen können sich bewusst von solchen Plakaten distanzieren.

Activ Fitness hat eine Verantwortung gegenüber der Öffentlichkeit, besonders gegenüber der Jugend. Sport ist etwas für ALLE Menschen, ganz unabhängig vom Gewicht. Dicke Menschen auszuschliessen (“ ab in den Schrank“), während man sie gleichzeitig zur Werbung für diese Angebote nutzt, ist nicht nur respektlos, sondern auch schädlich. Gewichtsstigmatisierung hat in den letzten Jahren zugenommen. Internationale Studien zeigen, dass bei jungen Menschen Dicksein der häufigsten Grund für Hänseleien und Mobbing ist. Diese Stigmatisierung führt zu schlechtem Körperbild, Esstörungen, Depressionen und zu Diskriminierung in den Bereichen Bildung, Freizeit und Wohnen.

Auch Fachpersonen wie wie Frau Dr. med. Dagmar Pauli, Chefärztin Kinder- und Jugendpsychiatrie Psychiatrische Universitätsklinik Zürich und Autorin des Buches „Size Zero“, spricht sich klar gegen diese Art von Werbung aus. Ich habe sie angeschrieben und nachgefragt. welche Auswirkungen diese Form von Werbung auf Jugendliche hat.
In ihrer Antwort findet Frau Dr. Pauli ganz klare Worte:

Werbungen, die füllige Körperformen abwerten, gehören auf den Müllhaufen der Werbegeschichte! Sie bewirken bei jungen Menschen vermehrte Selbstzweifel und können Depressionen und Essstörungen fördern.

Profit darf nicht wichtiger sein als die psychische Gesundheit der Bevölkerung.

Im Januar versendeten wir ein Schreiben an die Beteiligten der Werbekampagne. Neben Activ Fitness und Zürchermarketing adressierten wir auch ein Schreiben an die Migros Genossenschaft Zürich und die APG|SGA Rail AG, welche für die Schweizer Bahnhofswerbung zuständig ist.

Wir forderten von Activ Fitness eine öffentliche Entschuldigung sowie das Versprechen, diese Kampagne oder jegliche Werbung, die diese Art von Botschaft vermittelt, nie wieder zu verwenden.

An die APG|SGA Rail AG und die SBB formulierten wir die Erwartung, dass  Bahnkund*innen in Zukunft vor diskriminierender und abwertender Werbung geschützt werden!

Am 23. Januar erhielten wir per Mail eine Antwort der Genossenschaft Migros Zürich stellvertretend für Activ Fitness. Auf unsere Forderungen wollte Migros / Activ Fitness nicht eingehen. Einen Tag später wurde unsere Kritik vom Schweizer Online-Magazin persoenlich.com aufgegriffen. Migros äusserte stellvertretend für das Tochterunternehmen Activ Fitness Unverständnis gegenüber unserer Kritik. Das Plakatmotiv sei ein Lösungsvorschlag für die Weihnachtspfunde mit „einem Augenzwinkern“.

Die Kampagne schürt Körperhass als Motivation für eine Mitgliedschaft im Fitnessclub. Egal ob mit oder ohne «Augenzwinkern» – das ist inakzeptabel. Viel zu lange wurde in der Schweiz das Beschämen von dicken Menschen als Werbemittel missbraucht und es ist wichtig und nötig, dass wir uns als Gesellschaft gegen diese Art von Kampagnen und für Vielfalt und Respekt einsetzen. 

Unsere Speckrollen, als wie unschön sie in unserer Kultur auch gelten, sind Teil unseres Körpers und deshalb Teil unserer Identität. Wir Dicken haben einen Kopf, Herz und Verstand!

Die Würde des Menschen ist als Grundrecht in der Schweizer Bundesverfassung verankert und gilt für ALLE!

Mit dem Blick auf die Schweizer Bundesverfassung interessierte uns, was die Lauterkeitskommission zu dieser Werbung sagt. Die Antwort der Lauterkeitskommission hat sich, nicht ganz unerwartet, als nicht hilfreich erwiesen: «Die Lauterkeitskommission vermag in der beanstandeten kommerziellen Kommunikation weder eine Herabsetzung noch eine Verunglimpfung von übergewichtigen Menschen zu erkennen. Es wird für den Durchschnittsadressaten in erkennbarer Weise das bekannte Phänomen angesprochen, wonach viele Leute über die Festtage zu viel essen und anschliessend das Bedürfnis verspüren, das Gewicht wieder zu reduzieren.»

Die Lauterkeitskommission verkennt hier einige Facts. Das Plakat zeigt nicht die 200 – 300 Gramm, welche eventuell über die Festtage zugenommen werden. Sie benutzt dicke Menschen, um dieses Phänomen massiv zu übertreiben, als abschreckend darzustellen und um damit Geld zu verdienen.

Unsere Gegenaktion “Weg mit der Gewichtsdiskriminierung” hatte eine sehr grosse Reichweite auf Social Media. Sie erreichte Menschen in der Schweiz, Deutschland, Österreich und über die Romandie bis nach Frankreich. Gelten alle Personen, die ihre Stimme erheben und die tausenden Menschen, welche unsere Gegenaktion auf Social Media teilten, nicht zu den «Durchschnittsadressaten»?

Auch wenn die Reaktion der Lauterkeitskommission enttäuschend ist: Ich bin überzeugt, dass wir mit jedem Mal wenn wir unsere Stimme erheben und sagen: «Wir die «Durchschnittsadressaten» wollen das nicht!» einen Schritt in die richtige Richtung gehen.
Wir – die Bevölkerung – haben es in der Hand, neue kulturelle Normen und Werte herbeizuführen und zu verändern, was in der Werbung als akzeptabel gilt.

Vielen herzlichen Dank an alle, die sich an dieser Aktion beteiligten! Und an jede/n einzelne/n von euch, die sich tagtäglich für Körper Respekt einsetzen!


Eine Aktion von Melanie Dellenbach Yes2Bodies und der Gesellschaft gegen Gewichtsdiskriminierung.

Design: Natalie Rosenke
Briefe, Statements, Fotos und Übersetzungen der weiteren Texte: Zoé und Melanie Dellenbach.

Zum Weiterlesen:
Das komplette Statement von Dr. Dagmar Pauli 

Die Statements zur Werbung von Activ Fitness findest du in Deutsch auf der Seite: Statements

Durch Anais wurden wir auf Instagram auf diese Kampagne aufmerksam gemacht und sie hat sich mit einem Statement an der Aktion beteiligt.
Die Statements wurden uns von tollen Menschen zur Verfügung gestellt und von uns sinngemäss übersetzt! Vielen Dank!

Die Begründung der Lauterkeitskommission kann im pdf gelesesn werden: pdf Lauterkeitskommission

(1)“Kopflose Dicke“ Cooper, C. (2007) ‘Headless Fatties’ [Online]. London. Available: http://charlottecooper.net/fat/fat-writing/headless-fatties-01-07/
(2) Kersbergen, I., & Robinson, E. (2019). Blatant Dehumanization of People with Obesity. Obesity (Silver Spring, Md.), 27(6), 1005–1012. https://doi.org/10.1002/oby.22460

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